Die ersten beiden Oktoberwochen gehören bereits der Vergangenheit an. Noch dauert es eine Weile, bevor die ersten selbstgebackenen Weihnachtsguetzli herumgereicht und genossen werden.
Herr M aber meint – Oktober hin oder her – es sei jetzt genau der richtige Zeitpunkt, um über die bevorstehende Adventszeit zu sprechen.
Er schwärmt von den spanischen Nüssli, den Mandarinen, Schöggeli und einem geschmückten Christbaum. Und ja, all dies möchte er auch in diesem Jahr haben.
Herr M lebt alleine, verschiedene Erkrankungen führten zu einer Erblindung. Auch trägt er Beinprothesen.
Mein allererster Spitexeinsatz überhaupt, war bei ihm und fand noch im letzten Jahrhundert statt. Wir verstanden uns auf Anhieb und das Abenteuer nahm seinen Lauf.
Herr M lernte Hilfe von einer ihm noch fremden Person anzunehmen, während ich in eine für mich, neue Welt eintauchte.
Nach meinem ersten Besuch wusste ich, dass jedes Möbelstück und alle Gebrauchsgegenstände ihren festen Platz hatte und nach der Reinigung an genau diesen Ort zurückgestellt oder versorgt werden mussten.
Herr M kennt jeden Zentimeter seiner Wohnung. Ein unerwarteter, im Weg stehender Stuhl, hat fatale Folgen für ihn.
Pflegeutensilien, Pfannen, Geschirr und Besteck, sowie Lebensmittel und seine notwendigen Hilfsmittel, welche nicht an ihrem festgelegten Ort sind, bedeuten für ihn mühselige und nervenaufreibende Momente.
Bereits nach wenigen Wochen waren wir ein eingespieltes Team.
Herr M möchte mit mir zusammen den Einkauf im Nachbardorf erledigen. Verunsichert schaue ich ihn an. Schaffen wir das ohne untriebsame Überraschungen?
Er ist davon überzeugt und steckt mich mit seiner Zuversicht an.
Herr M bewegt sich Zuhause im Rollstuhl vorwärts. Für den Einkauf zieht er seine beiden Prothesen an, schnappt sich die Gehhilfen und steigt gut gelaunt und voller Tatendrang die Treppen hinunter. Ich gehe etwas ängstlich vor ihm, schaue nach jedem Tritt zurück und bin gewappnet für alles. Wohlbehalten kommen wir unten an – High five!
Wir haben alle Abläufe besprochen und so gelingt auch das Einsteigen in mein Auto auf Anhieb.
Am Ziel angekommen heisst es optimal zu parkieren. Gibt es ausreichend Platz zum Aussteigen? Wie ist die Distanz zum Geschäft? Ist ein Aufzug vorhanden? Mögliche Hindernisse gilt es abzuschätzen und vor allem richtig einzuschätzen!
Mit dem enormen Willen von Herr M, seiner Kraft, seiner immer noch vorhandenen Beweglichkeit und meiner taktilen Unterstützung, sowie verbalen Richtungsanweisungen, schaffen wir den Einkauf, gelingen uns Bank – und Postgänge.
Herr M geniesst diese Ausflüge sehr. Bieten sie ihm doch etwas Abwechslung. Er mag es, unter die Leute zu gehen. Er mag es, aus der täglich gleichbleibenden Monotonie auszubrechen und das Leben ausserhalb auf sich wirken zu lassen.
Ich vertraue immer mehr auf unser Miteinander, auf unser Gelingen – zusammen bewältigen wir harte Arbeit – zusammen haben wir aber auch viel Spass.
Herr M teilt mir bei jedem Besuch mit, dass er wieder einen Tannenbaum möchte. Keinen kleinen Putzigen. Nein, er soll bis zur Zimmerdecke reichen, dichte und gleichmässig gewachsene Äste muss er haben und ganz einfach wow sein.
Rot glänzenden Schmuck finden wir sorgsam verpackt in einem Schrank. Ebenso den Baumständer und die Decke zum Schutz für darunter. Eine neue Lichterkette und eine Zeitschaltuhr setzen wir auf unser Einkaufsliste.
Als nächstes diskutieren wir den Standort. Das Wohnzimmer hat eine Dachschräge, daher ist der Platz beschränkt. Der Weihnachtsbaum soll so stehen, dass ihn Herr M vom Sofa aus «sehen» kann.
Schnell ist uns beiden klar, dass er mitten im Zimmer stehen muss.
Es macht mir nichts aus, die Stube während der Jingle bells und Let it snow Zeit mit der nötigen Umkurvung des Christbaums staubzusaugen.
Wir finden die Sache toll und können uns das Kunstwerk bereits vorstellen. Die passende Musik liegt ebenfalls bereit.
Für Herr M ist ganz klar der geschmückte Christbaum das Wichtigste. Dicht gefolgt und an zweiter Stelle steht der mit Köstlichkeiten gefüllte Teller. Kein gewöhnlicher Essteller, wohlbemerkt. Er erzählt von grösseren Tellern, welche seine Mutter zum Jahresende aus dem Stubenbuffet hervorholte. Bemalt waren sie mit weihnachtlichen Sujets oder geschmückt mit filigran gehäkelten Deckchen. So einen Teller, das wäre schon was Feines.
Wir setzen ihn zu der Lichterkette und dem Timer auf die Liste. Die Schöggeli können wir auch schon im Voraus besorgen.
Herr M wäre nicht er selbst, wenn diese Schöggeli ganz banale Milchschokolade wäre, verpackt in 08/15 Papier. Und dazu auf dem festlichen aller festlichen Teller Platz für sich beanspruchen würde. Ich bitte Sie!
Es gibt nur eine Sorte Schöggeli, welche in Frage kommt. Es sind diese Runden, einzeln verpackt in glänzendem Papier. Rote, gelbgoldene, grüne und blaue. Die Rolle steckt zudem in einem farblich passenden Netzli. Jawohl!
Unser Einkauf erreicht die 100 Punkte von möglichen 100 Punkten!
Mittlerweile klopft der 1. Advent an unsere Türen. Wir haben die ganze to do Liste abgearbeitet.
Eine liebe Person der Nachbarschaftshilfe begleitet uns beim Tannenbaumkauf, hilft diesen schmücken und installiert die Zeitschaltuhr.
Ich richte den Teller her mit den spanischen Nüssli, den Mandarinen, wenige Datteln und Feige und den Schöggeli. Daneben liegen hübsche Servietten. Bei jedem Besuch fülle ich das Nötige auf. Herr M schätzt dies sehr und freut sich auf seine Gäste, mit welchen er all die feinen Sachen teilen kann.
Vom 1. Advent bis zum 6. Januar sitzt Herr M abends in seinem Wohnzimmer, hört Weihnachtsmusik und «schaut» in Richtung seines geschmückten Tannenbaums. Eines Tages sagt er zu mir: «Weisst du, was ich in diesen Momenten fühle? Ich empfinde Zufriedenheit, Dankbarkeit und Frieden.»